Der Untergang der islamischen Welt by Abdel-Samad Hamed

Der Untergang der islamischen Welt by Abdel-Samad Hamed

Author:Abdel-Samad, Hamed [Abdel-Samad, Hamed]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-426-41006-6
Published: 2013-06-11T16:00:00+00:00


Kultureller Inzest

oder: Eine Freistadt ohne

Freiheit!

Eine unfreiwillige Erfahrung mit einer geschlossenen Gesellschaft mitten in Europa verdeutlichte mir das Dilemma der islamischen Welt. Nein, es war keine Emigrantenenklave in Berlin oder Paris, sondern eine europäische Parallelgesellschaft namens »Freistadt Christiania« in Kopenhagen. Ich war im Sommer 2009 in der dänischen Hauptstadt, da meine Frau, die Halbdänin ist, dort an der Universität arbeitete. Mich besuchte dort der Journalist Henryk M. Broder, um mich für den »Spiegel« über mein letztes Buch zu interviewen. Das Interview dauerte mehrere Tage. Während einer Pause gingen wir in der Hafenstadt spazieren und landeten einmal bei Christiania; einer »befreiten« Zone, die 1971 von Hippies auf dem Boden eines ehemaligen Militärgeländes im Stadtteil Christianhavn besetzt wurde. Seitdem ist die Enklave eine Art Oase für linke Aussteiger, die zum neoliberalen Kapitalismus und Konsumterror der westlichen Gesellschaften eine Alternative anbieten wollten. Dort leben heute zwischen sieben- und elfhundert Menschen, die Christiania als unabhängige Stadt mit eigener Gesetzordnung, Flagge und sogar Währung sehen.

Meine Frau ist zwar in Kopenhagen geboren, war aber noch nie in Christiania und wusste wenig über diesen Teil der Stadt. Sie sagte nur, dass viele Dänen die Kolonie als Kult betrachten, viele wiederum dieses Stadtviertel meiden und dafür plädieren, es abzuschaffen. Wir kamen durch den Haupteingang nach Christiania hinein, und gelangten direkt zu der berüchtigten »Pusher Street«, dem Herzstück der Kolonie. Überall hingen Schilder, die das Fotografieren verbieten. In der »Freistadt«, die sich selbst als die letzte existierende Oase der wirklichen Freiheit und Gerechtigkeit sieht, ist sonst nichts verboten, außer Hunde an der Leine zu ziehen oder schnell in der Pusher Street zu laufen, und das hat seine Gründe. Denn in der Pusher Street befindet sich Dänemarks größter Drogenmarkt auf offener Straße, ein Millionengeschäft. Aber nur weiche Drogen wie Haschisch und Marihuana sind dort im Angebot, betonen die Christianiten immer wieder gerne.

Wer dabei erwischt wird, harte Drogen zu verkaufen oder zu konsumieren, wird aus der Stadt verbannt, erzählte mir später eine Lehrerin namens Benta, die seit 1984 in Christiania wohnt. Von ihr habe ich auch erfahren, dass die dänische Polizei sich in Christiania nicht einmischen darf. Benta erzählte, dass die Kolonie basisdemokratisch regiert wird. Wenn Konflikte auftauchen, treffen sich alle erwachsenen Männer und Frauen und beraten darüber, bis ausnahmslos alle eine gemeinsame Entscheidung treffen. Ein Verfahren, das Wochen und Monate dauern kann. Bewohnern, denen schwere Vergehen nachzuweisen sind, werden entweder für immer oder für eine bestimmte Zeit aus der Stadt verbannt. Einen persönlichen Besitz gibt es angeblich in Christiania nicht, Gehälter auch nicht. Alle arbeiten in eine Gemeinschaftskasse, die unter allen Bewohnern gerecht verteilt würde. Auf meine Frage, ob das auch für die Drogendealer in der Pusher Street gelte, schluckte Benta und gab mir keine klare Antwort. Ganz offensichtlich wird die Mehrzahl der Bewohner, die arbeitslos ist, von den Dealern mit Naturalien für ihr Schweigen bezahlt. Von Freiheit habe ich in Christiania nichts gespürt. Die benebelten skeptischen Blicke der Christianiten, die sich auf jeden Fremden richten, der die Kolonie betritt, und die Verbotsschilder vermittelten mir eher die Atmosphäre eines Big-Brother-Containers im Drogenrausch.



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